GERRIT RIETVELD: Elling-Kommode
- derblogderdinge
- 21. Mai 2017
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 25. Juni 2021

In den vergangenen Monaten hatte ich mehrere Begegnungen mit der avantgardistischen Kunst des frühen 20. Jahrhunderts. Zunächst war da die Elling-Kommode von Gerrit Rietveld im Stedelijk Museum Amsterdam. Sie hat mich so fasziniert, dass ich einen Artikel über sie schreiben wollte. Dann begegneten mir die erhaltenen Reste des Vergnügungslokals L'Aubette 1929 in Straßburg und die Weißenhofsiedlung (1927) in Stuttgart.
Eines hatten die Begleittexte der verschiedenen avantgardistischen Kunstwerke leider gemeinsam: Viel theoretischer Text, der für mich schlecht nachvollziehbar war. Ich habe mich daher entschieden, aus allen Begegnungen die Prinzipien kurz zu verknüpfen und die Besonderheiten der Rietveld'schen Elling-Kommode mit Abbildungen darzustellen. Hinter jedem verlinkten Schlagwort befindet sich eine schöne Quelle, die noch mehr Hintergrundinfos mit Bildern oder Videos liefert.
Der niederländische Designer und Architekt Gerrit Thomas Rietveld (1888-1964) wird meist mit der avantgardistischen Bewegung De Stijl und seinen richtungsweisenden Werken, dem Rot-Blauen-Stuhl und dem Rietveld-Schröderhaus in Utrecht, verbunden. Doch war die Zusammenarbeit mit De Stijl nur der der Beginn Rietvelds Karriere, an dem er mit seinen Möglichkeiten experimentierte. [1]

De Stijl (sprich: [də ˈstɛil]) war eine frühmoderne Bewegung in Holland, die von der gleichnamigen Kunstzeitschrift (gegründet 1917 von Theo van Doesburg) ausging. De Stijl hatte auch großen Einfluss auf das Bauhaus in Deutschland.
In der Bewegung verbanden sich Maler:innen, Bildhauer:innen, Architekt:innen und ein Dichter mit dem Ziel, mit Hilfe von abstrakter Kunst eine utopische Umgebung zu schaffen.
Die Utopie bedeutet hier nicht nach heutigem Verständnis ein "Wunschbild", sondern eine Vision für positiven gesellschaftlichen Wandel.
Die Künstler:innen strebten die Schaffung von Gesamtkunstwerken an. Sie vereinigten Gattungen, Techniken und Medien. Konkret bedeutet dies, dass nicht nur das Gebäude angefertigt wurde, sondern auch die Inneneinrichtung, Lichtschalter, Geschirr, usw.
Teil des Gesamtkunstwerks war außerdem die Umsetzung der oben erwähnten Utopie. Im zeitgenössischen Kontext des frühen 20. Jahrhunderts folgte daraus die Schaffung von modernen Annehmlichkeiten für moderne Menschen, die in wenig Wohnraum möglichst komfortabel leben möchten. Die Funktionalität spielte eine große Rolle. [2]
Als Beispiel für die Schaffung eines Gesamtkunstwerks möchte ich hier das Doppelhaus von LeCorbusier und Pierre Jeanneret in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung (1927) nennen. Aus rechtlichen Gründen darf ich meine Fotos hier leider nicht veröffentlichen -- bitte klicke auf die jeweilige links, um Bilder zu sehen.
Das Doppelhaus in der Rathenaustr. 1-3 wurde von Le Corbusier und Jeanneret 1927 für die Werkbundausstellung errichtet. Hier: Blick in das Treppenhaus in der linken Haushälfte, die heute eine Ausstellung beherbergt.
Die rechte Haushälfte wurde originalgetreu rekonstruiert, inklusive Einrichtung und Wandfarben. Hier zum Vergleich: Blick in das Treppenhaus in originalgetreuer Farbgestaltung.
Der rekonstruierte Wohnraum. Die Betten können tagsüber in den Schränken verstaut werden. Mithilfe der Schiebewände teilen die Bewohner:innen den Raum nach ihren Bedürfnissen auf. Da die Wohnfläche nicht gerade großzügig ist (wie hier auf einem Foto des Gangs erkennbar) schafft diese Wandelbarkeit mehr Raum.

De Stijl ging aus der malerischen Theorie des Neoplastizismus hervor. Der Neoplastizismus wurde ebenfalls von Theo van Doesburg entwickelt -- in Zusammenarbeit mit dem Maler Piet Mondrian. Ihre Merkmale sind:
Geometrie
Abstraktion
Plastizität (also die Herausstellung der Form)
ausschließlich vertikale und horizontale Linien
Verwendung der Grundfarben Blau, Rot, Gelb
Kombination der Grundfarben mit den Nichtfarben Schwarz, Weiß und Grau
asymmetrische, aber ausgewogene Kompositionen
keine Bezüge zur Wirklichkeit [2]
Ab 1926 jedoch wandte sich van Doesburg vom Neoplastizismus ab und entwickelte sich hin zum Elementarismus. Er verwendete fortan nicht nur rechte Winkel, sondern auch Diagonalen. Dadurch wirkten die Gestaltungen dynamischer. [2] Hier dient der Vergnügungskomplex L'Aubette (1928) in Straßburg als anschauliches Beispiel. Die Besucher:innen konnten hier innerhalb eines Gebäudes tanzen, etwas trinken, Billard spielen oder ins Kino gehen. In Zusammenarbeit mit Sophie Taeuber-Arp und Hans Arp gestaltete van Doesburg von der Einrichtung, über den Wanddekor bin hin zur Beschilderung ein Gesamtkunstwerk. Und das unter der radikalen Verwendung der Rasterform. Leider war das zeitgenössische Publikum nicht begeistert vom Ergebnis und die Räume wurden schließlich vollständig umgestaltet. Nach einer aufwendigen Rekonstruktion ist das erste Geschoss heute wieder zu besichtigen. [3]
Nach diesem Exkurs zu den Hintergründen der avantgardistischen Kunst kehren wir zurück zu unserer Elling-Kommode. Aus rechtlichen Gründen darf ich leider keine Bilder der Kommode zeigen -- hier findest du eine Abbildung in der Sammlung des Stedelijk Museums.
Auch Gerrit Rietveld kombinierte in dieser Arbeit die traditionelle handwerkliche Handarbeit (sein Vater war Schreiner) mit modernen maschinellen Methoden zur preiswerten Massenproduktion. Rietveld fertigte sie im Jahr 1919 für den niederländischen Architekten Piet Elling an. [4] Hier findest du eine zeitgenössische Fotografie von der Kommode im Wohnzimmer der Ellings.
Nachdem sich das Ehepaar scheiden ließ, ging das Stück in den Besitz von Frau Elling über. Leider verbrannte dieses Original und ist nur noch in Resten erhalten (Foto). Das Exemplar, das ich im Stedelijk Museum Amsterdam gesehen habe, ist eine Rekonstruktion aus den 50er-Jahren

Rietvelds Markenzeichen ist der nach ihm benannte Knoten, in dem drei Leisten rechtwinklig übereinanderlappen. [4] Gerade dieses Detail macht die Kommode in meinen Augen so interessant. Denn sie ist ganz schmucklos auf alle Elemente reduziert, die eine Kommode braucht: eine Ablagefläche, darüber eine kleine Konsole, darunter vier Schubladen, ein Korpus mit zwei Türen, vier Beine. Diese Elemente sind schmucklos und bestehen ausschließlich aus horizontalen und vertikalen Linien. Der Rietveld-Knoten jedoch macht die Konstruktion dahinter sichtbar und wirkt wie ein dekoratives Element.
Links und Informationen:
[1] Robbert van Strien: "Rietveld's Universe -- and Beyond", Design Issues, Vol. 27, Nr. 3, MIT 2011
[2] Begleitmaterial Ausstellung "Heterotopien. Von den modernen Avantgarden in der zeitgenössischen Kunst". 10.12.2016-30.04.2017, Museum für moderne und zeitgenössische Kunst (AMAMCS), Straßburg
[3] Begleitmaterial L'Aubette 1928, erhältlich am Eingang
[4] Paul Overy: "Carpentering the Classic: A Very Peculiar Practice. The Furniture of Gerrit Rietveld", Journal of Design History, Vol. 4, No. 3, The Design History Society 1991
hier die Ausgabe von "De Stil", Vol.3, No.5, in der die Elling-Kommode abgebildet ist
"Color Solution" von Theo van Doesburg: Public Domain via artvee.com
"Composition (No. 1) Gray-Red" von Piet Mondrian: Public Domain via artvee.com
"Vertical-Horizontal Composition" von Sophie Täuber-Arp (1928): Public Domain via artvee.com
soweit nicht anders angegeben alle Fotografien und Zeichnungen © Patricia Breu
besonderes danken möchte ich den Musées de Strasbourg und M. Bertola für die Bereitstellung der Fotografien des L'Aubette
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